Hartz-IV Satz wirklich nicht ausreichend zum Leben?

Guten Abend,

ich stelle es schon mal voran, dass meine Frage nicht wertend gemeint ist. Ich komme selbst aus einem eher ärmeren Haushalt und hatte viele Verwandte die arbeitslos waren/sind. Ich komme aus Ostdeutschland und um die Jahrtausendwende waren die Jobs sehr knapp und in vielen Familien war mindestens eine Person ungewollt arbeitslos, auch bei meinen Eltern. Oder es gab keine Ausbildungsplätze usw.

Aber nun zu meiner Frage. Ich habe vor kurzem einen Bericht im Deutschlandradio gehört "Die vergessenen Kinder von Hellersdorf – eine Langzeitbeobachtung". Da ging es mitunter um die Arche und das viele Familien/Kinder durch die Coronamaßnahmen und das dadurch fehlenden Essen aus der Arche finanziell nicht mehr klar kommen. Eine Familie mit alleinerziehenden Vater und 4 Kinder wurden genannt. Der Vater meinte, dass der Hartz IV Satz kaum für eine warme Mahlzeit pro Tag für alle reicht (selbstgekocht). Und das die Kinder keine Möglichkeit für Vereine haben, weil es zu teuer ist. Der Vater wirkte im Bericht engagiert und vernünftig.

Ist es wirklich so, dass der Hartz-IV-Satz nicht für eine Familie ausreichen kann? Also für Vereine und eine warme Mahlzeit? Die Miete wird (falls angemessen) extra bezahlt, oder?

Mal angenommen man weiß richtig gut Bescheid und stellt alle möglichen Anträge. Ist es dann immer noch so schwierig? Und mal angenommen, man kocht selbst, holt das Essen bei den Tafeln? Müsste da nicht was drüber bleiben, da man sehr viel Essengeld spart.
Mit Bildung und Teilhabe kann man sehr viel beantragen (15 Euro für den Verein pro Monat. bezahlte Essen in der Betreuung, zusätzlich Fahrtkostenerstattung) oder wird das alles gestrichen, weil das schon im Hartz IV Satz enthalten ist.

Ich frage mich das wirklich, weil ich das schon in mehreren Berichten gehört habe und einfach von außen nicht einschätzen kann, was man wirklich mit Hartz IV bekommt. Das man kein Luxusleben führen kann ist klar, aber vielleicht kann man mit viel Organisation ein vernünftiges Leben führen und sich Vereine und mal einen Urlaub leisten? Oder geht das nur unter Idealbedingen (keine Krankheiten oder Allergien, handwerkliches Geschick, gutes finanzielles Verständnis usw.)?

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Ich denke schon, dass man ein vernünftiges Leben leben kann. Wir hatten vor 15 Jahren in der Familie auch Berührung damit und da war auch ein Urlaub (im Billig-Hotel) drin.
Und auch für warme selbstgekochte Mahlzeiten reicht das Geld.
ABER: nicht jeder kann mit Geld umgehen. Und nicht jeder legt die Prioritäten auf gesunde Nahrungsmittel. Manchen sind Zigarretten u.a. Suchtmittel, viele Haustiere oder auch Netflix/Prime und Sky TV gleichzeitig wichtiger. Solche Kosten sind nicht in dem Maße vorgesehen.
Die Hürden für die Kostenerstattung z.b. für neue Einrichtung oder sonstige Zusatzkosten sind hoch, sodass das oft nicht vollständig ausgenutzt wird. Ich denke es wird schwieriger je länger man damit leben muss.

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Ich denke, so 1 - 2 Jahre kann man mit ALG2 schon auskommen. Aber dann? Die Matratzen sind irgendwann durch und müssen ersetzt werden, der Kühlschrank, die Waschmaschine sind im Eimer, etc. Das muss alles aus dem Regelsatz bezahlt werden und reisst Löcher. Und da es so gut wie unmöglich ist, vom ALG2 Satz stabile Rücklagen zu bilden, werden die peu a peu grösser. Und dann reicht das Geld eben nicht mehr.
Hier:
https://hartz4widerspruch.de/ratgeber/basic/regelsatz/
wird aufgeschlüsselt, was sich für Einzelbeträge im ALG2 Regelsatz verbergen.Wie knapp der kalkuliert ist, wird da m.M.n. sehr gut deutlich.

Und 15€ im Monat mag die Vereinsgebühr abdecken (allerdings nicht in allen Vereinen), aber noch lange nicht die Ausstattung - z.B. die Fussballschuhe, das Musikinstrument.
Und viel von dem, auf was ALG2-Empfängern Anspruch haben, muss beantragt, begründet, mit Nachweisen untermauert werden. Da kann schon ein simpler Klassenausflug viel Rennerei im Vorfeld bedeuten.

Und - was das Ganze noch fataler macht - von jeglichem eigenen Einkommen, sind nur 100€ anrechnungsfrei. Und das gilt genauso für den Schülerjob der Kinder. Selbst die Kinder - die für die Situation ja nun gar nix können, müssen viel mehr arbeiten als nicht ALG2-Kinder, um sich das Traumhandy, den Führerschein, zu ermöglichen.

Grüsse
BiDi

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Ganz genau!
Wenn man dann noch dazu nimmt, dass viele Langzeitarbeitslose diesen Dschungel an Anträgen und Zuschüssen gar nicht durchblicken können (zb aufgrund niedrigerer Bildung oder schlechten Ressourcen) und somit die möglichen Gelder gar nicht alle bekommen, ist es nochmal schlimmer.

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Eine der Hauptressourcen auf die es ankommt ist Organisierenkönnen. Gute Matratzen gibt es für 100,- eine Bosch Waschmaschine für unter 400. Da die Dinger mind 10 Jahre alt werden, ist das im Satz schon drin, gerade bei Familien. Aber konsequent 20 Euro jeden Monat dafür weglegen, daran hapert es. Das ist im Budget einer Familie schon drin, aber dafür muss man überhaupt erst einmal budgetieren. Das Organisieren ist dann der nächste Punkt: kaufe ich die Wama für 400, schleppe sie in meinem Kleinwagen nach Hause und lasse die alte (kostenlos, 2x jährlich) vom Müll abholen, oder lasse ich liefern und anschließen (+40) und mir auch noch die Mitnahme der alten aufschwatzen (+20)?

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Ich bin da zwiegespalten.
Eine frühere Bekannte/Freundin bezieht Hartz 4, hat drei Kinder und schien damit gut klarzukommen. Ich habe von ihrem Leben natürlich nur einen Ausschnitt mitbekommen, aber Geld für großflächige Ganzkörpertattoos war drin und einen Schrebergarten mit schickem Häuschen in der Stadt hat sie sich damals auch zugelegt.
Sie hat sich ihr Leben damit gut eingerichtet und wird wohl in ihrem gesamten Leben nicht mehr arbeiten gehen (ja, das war einer der Gründe, warum unsere Freundschaft im Sande verlief).

Auf der anderen Seite war ich nach meinem Studium 6 Wochen arbeitslos und habe versucht, alle Kosten radikal zu reduzieren. Den ersten Monat bin ich mit 600 Euro, davon 380 Euro Miete, ausgekommen. Das war aber ein Leben auf Verschleiß, wie hier schon geschrieben wurde. Ich musste für diesen Monat keine neue Kleidung kaufen, keine Schuhe, Haushaltsgeräte usw. Wenn die Waschmaschine kaputt geht und dafür mindestens 400 Euro draufgehen, sieht es schon anders aus. Gesund gegessen habe ich damals nur bedingt (kein Fastfood, aber einseitig). Mit ein bisschen mehr Geld wäre das aber drin gewesen. Gesundes Essen muss nicht teuer sein, aber die ganzen Extraausgaben reißen schnell ein Loch in die Kasse.
Oder wenn ich bedenke, wie viel Geld wir für Schuhe unserer Tochter im letzten Jahr ausgegeben haben. 49,90 € scheint der Standardpreis für normale Schuhe zu sein. Von Barfußschuhen etc. sprechen wir da noch lange nicht.

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ALG2 ist sehr wenig und hier leiden insbesondere die Kinder. Ich befürworte überhaupt nicht diese Anrechnerei von Zahlungen aus Schülerjobs. Das Geld sollten Kinder behalten dürfen.
Aber es liegt auch viel in den Händen der Eltern, wofür gebe ich mein bisschen Geld aus, wo kann ich zusätzlich Hilfe bekommen, in welchem Verein bekommt mein Kind vielleicht günstiger rein (gibt es) und kann ich Ausstattung geliehen oder gebracht bekommen? Es gibt auch viele Freizeitangebote, die nicht viel kosten (z.B. Pfadfinder) und Schulangebote gibt es auch (für Kinder mit ALG2 meistens umsonst).
Man muss sich kümmern und es geht eben nicht alles. Vielleicht kann ich kein Hotelurlaub mit den Kindern finanzieren aber ehrenamtliche Angebote für Zeltlager gib es auch.
Also Ansprüche angucken und das bisschen Geld sinnvoll ausgeben.

Wir hatten in meiner Kindheit auch kein Geld. Die ALG2 Empfänger hatten kein Problem die Klassenreise zu bezahlen (bekamen es ja vom Amt), meine Mutter musste sehr gucken mal eben 300€ locker machen, damit 1 von 3 Kindern mal 5 Tage sonst wo ist.

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Ich denke, das kommt sehr auf die Umstände an.

Wir wissen zu haushalten, können kochen, sind handwerklich versiert, alle gesund, sind nicht auf den Kopf gefallen, wohnen in einer gut funktionierenden Gemeinde. Wir kämen damit aus.

Unsere Lebensmittelkosten sind allerdings eh kaum über H4, wir haben keine Handy-, Streaming oder sonstige Verträge. Keine teuren Hobbies. Einzig den Musikunterricht der Kinder müssten wir umstellen, da wir in der städtischen Musikschule im Gegensatz zum Privatlehrer von den Gebühren befreit wären. Chor kostet nichts, Sport 10 im Monat, das wäre übers Teilhabepaket abzudecken, Bücherei kostet auch nichts. Kinderturnen und Musikgarten kosten ebenfalls nichts. Kinderschuhe sind nicht ohne, das stimmt, wobei ich auch erst einmal mehr als 50 ausgegeben habe, als im Lockdown nur mit Voranmeldung eingekauft werden könnte. Und wir kaufen fast immer Ricosta, Superfit, o.ä. Teure Ausflüge machen wir sehr, sehr selten, nehmen immer eigene Brotzeit mit, eher Wildpark als Zoo, eher Museum als Trampolino. Möbel etc meist gebraucht, wenig Unterhaltungselektronik.

Aber wir haben halt auch den Vorteil, dass keine teuren Medis oder Behandlungen benötigt werden, dass kein Kind Nachhilfe benötigt, keine spezielle Ernährung, kein alter Kredit, o.ä. uns drückt.

Wer nicht kochen kann, nicht gelernt hat zu wirtschaften oder krank ist, tut sich schwer.

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Hallo.

Das kommt ganz drauf an. Ich kenne Solche und Solche.

Familie A lebt seit Jahren vom Amt - und auch nicht schlecht.
Die Mutti ist relativ fit darin, alles in Erfahrung zu bringen, das Zuschüsse bringt.
Die Kinder sind gepflegt und tragen saubere und moderne Klamotten. Klar - keine teuren Markenklamotten - aber das können Kinder von Normalverdienern auch nur begrenzt oder kaum.
Schulausflüge wurden vom Elternbeirat der Schule bezuschusst. Schulbedarf scheinbar vom Amt (bin mir da aber nicht sicher, konnte ihrer Erläuterung damals nicht ganz folgen).
Die Kinder sind auch im Sportverein. Dies ist in unserer ländlichen Gegend sehr günstig. Zudem finden auch in der Schule kostenlose "AGs" statt. Egal ob Musik, Tanz oder Theater.
Bei ihnen wird auch täglich frisch gekocht, also nix mit Dose öffnen und erhitzen.;-) Auch für einen Kleinwagen reicht das Geld.
Allerdings: sie haben keine teuren Tattoos, rauchen und trinken nicht. :-)

Dann kenne ich noch Familie B.
Kinder weder in Kita, noch in Grundschule Pausenbrot dabei und weniger gepflegt.
Eltern den ganzen Tag über auf der Terrasse bei Kaffee und Zigarette. Übelst gefärbte Haare, Tattoos und Piercings über den gesamten Körper verteilt.
Jugendamt kommt ab und an vorbei (m.M.n. viel zu selten). Kinder gehen zu den Nachbarn, wenn sie Hunger haben.
Aber: Auto, Motorräder, Rassehunde

Ich bin der Auffassung, dass man schon mit Hartz IV Satz leben kann, wenn man gut haushaltet.
Klar kann man keine großen Sprünge machen. Aber das können andere arbeitende Familien oft auch nicht. Müssen dafür aber morgens auf der Matte stehen und ein Auto finanzieren, um pünktlich in der Firma zu sein.

Lg

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Schulbeihilfe gibt es im Oktober 108€ und im Februar 52€.
Davon kann ich noch nichtmal den Taschenrechner für die ältere bezahlen. Nur um in Relation zu setzen, was „Schulbedarf wird übernommen“ bedeutet.

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So ein Taschenrechner muss ja nicht jedes Jahr gekauft werden. Und gebraucht geht auch. Trotzdem sind 160 pro Jahr natürlich eng bemessen, zumindest in Bundesländern ohne Lehrmittelfreiheit (wobei die meist einen guten Gebrauchtbuchmarkt haben).

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Hallo,
Ich musste damals vor 10 Jahren 2 Jahre von Alg2 leben mit meiner Tochter.
Ich erinnere mich an eine sehr schöne Zeit. Uns hat nix gefehlt. Meine Tochter war noch Baby. Ich habe neben der Miete um die 700 Euro bekommen.
Ich hatte mein altes Auto, wir waren an der Ostsee, konnten da 3 Tage Urlaub machen, ich war im Fitnessstudio angemeldet mit Kinderbetreuung und Sauna, habe uns Markenklamotten bei eBay geholt und wieder verkauft. Ich habe mich bei jedem Mist angemeldet und habe wirklich viele kostenlose Proben bekommen, habe mach einleuchtend guten Angeboten Ausschau gehalten. Konnte sogar in den 2 Jahren 2000 Euro sparen. Ich habe täglich frisch gekocht, bin nach 18 Uhr einkaufen, als schon paar Sachen 30% runtergesetzt waren.
Es war wirklich eine tolle Zeit mit viel Zeit für meine Tochter. Im Sommer sind wir zum See gefahren oder selten auch zum Freibad. Im Winter habe ich bei eBay einen Schlitten geschossen für paar Euro.
Ich kann dieses Jammern nicht verstehen, dass es nicht reicht. Es reicht sehr wohl, man muss nur etwas planen. Es ist mir auch nicht schwergefallen. Es war eben so.
Später habe ich mein Studium anerkennen lassen und arbeite nun seit 8 Jahren als Lehrerin.
Und tatsächlich kaufe ich noch vieles ein, was schon runtergesetzt ist. Aber mittlerweile nicht nur wegen dem Geld, sondern auch, weil die das ansonsten wegschmeißen. Und Verschwendung hasse ich sehr.

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Bedingt durch ein Ehrenamt habe ich da recht viel mit zu tun. Fazit: Es geht irgendwie. Es ist halt eine Grundsicherungsleistung, die wirklich nur den Grund sichert.

Bedeutet: Kann man kochen, hat keine Allergiker im Haus und wohnt in der Stadt geht es ganz gut. Natürlich wird es bei Urlauben, Extrawünschen usw. echt eng.
Sobald man irgendwo einen höheren Bedarf hat (hier auf dem Dorf z.B. ein Auto) wird es problematisch.

Das nächste große Problem: ALG2 ist ein Stückweit eine Schuldenfalle. Arbeitet man aufstockend, muß man genau schauen, dass man Geld, was man über der Berechnung verdient an die Seite legt. Eine neue Waschmaschine, Kühlschrank o.ä, ist schnell beantragt und bewilligt, nur muß man das Geld auch zurückzahlen. Hat man dann noch regelmäßig Energieschulden wird es schwer.

Grundsätzlich ist das System auf eine schnelle Reintegration in Arbeit ausgelegt. Was soweit auch richtig ist. Nur wer nicht innerhalb von 1-2 Jahren raus ist, bleibt tendenziell lange im System,
Da reicht der Satz dann tatsächlich nicht, da man einfach finanziell ausgeblutet ist.

Wichtig ist, sich bezüglich Mehrbedarfen auf dem laufenden zu halten. Auch ein kleiner Nebenjob hilft schon viel (100€ Grundfreibetrag im Monat ist schnell erwirtschaftet und viel Geld im Leistungsbezug)

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Hallo.
Ich habe eine Zeitlang als Alleinerziehende Mutter Hartz 4 bekommen. Mir und meiner Tochter ging es finanziell gut. Ich konnte täglich frisch kochen, die Wohnung war schön eingerichtet, wir sind regelmäßig ins Schwimmbad und Tiergehege gegangen, ich konnte Rücklagen bilden und mir sogar den Führerschein auf Raten finanzieren. Hab halt oft nach Angeboten geschaut und vieles auch gebraucht über eBay geholt.